| Holger Schulze on Mon, 24 Mar 2003 11:22:08 +0100 (CET) |
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hallo allerseits ,
anbei der vortrag
Die mediale Persona.
Zur Tektonik des medialen Imaginariums
http://mediumflow.editthispage.com/stories/storyReader$57
den ich letzte woche in frankfurt/m.
auf dem symposion _Intimität - Medien - Kommunikation_
im Museum für Kommunikation gehalten habe .
http://www.unizh.ch/~elwyss/Tagung_Frankfurt.html
*
der vortrag ist teil meines derzeitigen forschungsprojektes
Intimität und Medialität.
Eine Tektonik medialer Erzählungen
http://mediumflow.editthispage.com/stories/storyReader$52
- dritter teil in der _Theorie der Werkgenese_ .
http://mediumflow.editthispage.com/stories/storyReader$23
*
für kritik & anregungen bin ich wie immer sehr dankbar . . .
viel spaß beim lesen ,
holger schulze
Die mediale Persona
Zur Tektonik des medialen Imaginariums
von Holger Schulze
(Vortrag für das Symposion _Intimität - Medien - Kommunikation:
Erstes internationales interdisziplinäres Symposion zum
Liebesdiskurs_, Museum für Kommunikation Frankfurt
am Main 21. März 2003)
Von Ferne sehen wir eine fremde Person. Zum Beispiel in einem
professionellen Zusammenhang, Geschäftsessen, ein offizieller
Empfang, vielleicht eine Tagung. Aus Anlass dieser Begegnung
erinnern wir uns an ein Foto. An einen Namen, einen Text, einen
vorherigen öffentlichen Auftritt. Erinnern wir uns an nichts, so
kommen uns doch gleichartige Begegnungen in den Sinn. Begegnungen
mit Personen ähnlicher Physiognomie, vergleichbarem Temperament,
mit Kleidungsstilen, Haltungen und Dispositionen, die wir hier
wiederzuerkennen meinen.
Doch wir kennen diesen Menschen nicht. Und trozdem haben wir
unmittelbar einen bestimmten Eindruck von ihm, von ihr, eine
deutliche Vorstellung von der Person, die uns hier gegenübertritt.
Wir können von nun an über sie sprechen. Obwohl sie uns weiterhin
unbekannt bleibt. Wir hören das Gespräch, das ihr vorausgeht oder
nachläuft.
Mediale Räume
Die erste Begegnung mit einem Menschen geschieht aus der Ferne.
Persönliche, private oder gar intime Situationen folgen nach. Es
sind offiziell-distanzierte, professionelle, gesellschaftliche
Selbstdarstellungen, in denen wir Andere erleben und Andere uns.
Momente, da wir einander vorstellen, unbekannte Menschen auf
_medialer Bühne_.
Eine Bühne, die weder an technische Aufzeichnungs-, noch
Übertragungsapparate gekoppelt ist, sondern an eine Aufmerksamkeit,
die die Anwesenden auf jede neu auftretende Person projizieren,
aktuell oder virtuell. Solche Momente medialen Auftretens bündeln
Interessen und Erwartungen der Anwesenden auf engstem Raum, in eng
begrenzter Zeit. Ein Übermaß an Spannung entsteht, oft kaum
erträglich für Protagonisten und Publikum.
Orte medialer Übertragung existieren nicht isoliert. Andere
mediale Räume sind ihnen vorgelagert und wiederum andere folgen
ihnen nach. Auftritte einer medialen Persona werden vorbereitet
durch Auftritte in anderen medialen Räumen. Durch Vorankündigungen
oder Interviews, Kurzbiographien oder Publikationen. Gesprächsweise
Erwähnungen, einführende Worte.
Ankündigung und Nachhall verbinden diese medialen Räume miteinander
durch ihre wellenförmige Ausbreitung. Gerüchte und Kolportagen,
gelangweilte, üble oder begeisterte Nachrede. Myriaden von
Partikularerzählungen hüllen jeden Menschen ein, bilden als
Kollektiverzählung eine narrative Aura um uns. In jedem Moment
wird eine soziale Existenz von diesen Erzählpartikeln umschwirrt,
meist locker und ungezwungen. Verdichtungen entstehen im Umfeld
medialer Auftritte, das Gespräch wird reger, Sätze über
Protagonisten schwingen sich auf einen semantischen Gehalt, eine
mehrheitlich affirmierte Beurteilung ein. Eine Kollektiverzählung
über diese Person entsteht. Lose Erzählfragmente, verdichtet zu
einer Figurenskizze.
Ein starkes Dispositiv ist dieser mediale Raum. Die Aufmerksamkeit
der Beteiligten einer solchen Situation konzentriert sich auf die
Protagonisten öffentlichen Handelns bühnenartig. Der prozessuale,
interaktionistische und fluide Charakter menschlichen Handelns wird
fast verdeckt von seinen exemplarisch aufgeladenen, ja demonstrativ
werkhaften Anteilen. Unsicher suchende Menschen werden zu medialen
Personae, eine Selbstartifzialisierung findet statt.
Die Tektonik des Imaginariums
Die Abfolge medialer Räume ist ein Imaginarium.
Hervorgebracht durch die Aufmerksamkeit und Erwartung einer
Umgebung, fokussiert es sich auf die Kohärenz einer Persona und
ihrer Handlungen, es honoriert ihre Distinktheit und
Interpretierbarkeit, es sanktioniert Undeutlichkeit, Verwaschenheit.
Eine Darstellungsspannung um diesen Auftritt herum bildet sich,
eine psychische _Tektonik der Aufmerksamkeit_.
Dieses Spannungsgebilde ändert sich situativ und prozessual und
übt als Äusserung des medialen Dispositivs einen starken Druck auf
jeden Protagonisten aus. Regulierend und disziplinierend, sich an
einer Stelle verdichtend und an anderer wieder auflösend. Die
Tektonik eines medialen Raumes ist seine spezifische,
räumlich-soziale Anspannungsformel, die sich tatsächlich auf die
konkreten Handlungen jedes Einzelnen im Rahmen sozialer Kohäsion
auswirkt. Handlungen und Haltungen, Bewegungen und Vollzüge sind
eingespannt in Kollektivreaktionen, die wir als Protagonisten
genauso machtvoll in uns empfinden wie als Publikum. Wir
entscheiden nicht darüber, ob wir zustimmen oder Widerstand
leisten sollen. Sondern wir sind in allen, in großen und kleinen,
elektrifizierten oder unmittelbaren medialen Situationen einer
nicht-sprachlichen Kollektivspannung unterworfen, zu der wir selbst
maßgeblich beitragen.
Dieser hochgespannte Erwartungsraum bringt im kollektiven Gespräch,
durch Interpretation und Urteil eine verbindliche, mediale
Erzählung der Handlungen einer Persona hervor. Die
nicht-sprachliche Tektonik übersetzt sich hier - soweit sie
interpretierbar ist. Handlungen, die einer Deutung sich entziehen
oder dem Vorrat an Erzählungen sich widersetzen, werden dabei
übersehen oder als krank oder irrelevant oder neurotisch
ausgeschlossen.
Diese medial notwendige Bedingung der Interpretierbarkeit
limitiert die Möglichkeiten wirksamen Handelns. Ein höheres Maß an
Direktheit, Deutlichkeit und Distinktheit wird notwendig um in
medialen Räumen Wirkung zu erreichen als etwa in den höchst
seltenen Situationen, da die Darstellungsspannung nachlässt und
intime Gelöstheit sich einstellt. Äusserungen, die sich nicht in
die Kollektivtektonik einbauen lassen und darart darin behaupten,
verschwinden im fahrig verwischten Hintergrundrauschen des
Sub-Medialen. Ein Effekt massen- oder gruppenpsychologischer
Theatralität.
Erzählungen bilden sich somit heraus, die die umstandslose
Interpretabilität ihrer Protagonisten fordern; und zugleich doch
bevorzugt nach überraschenden, schwer deutbaren und nur darum
erzählenswerten Wendungen der Handlung suchen.
Imaginarium der Wissenschaften
Wie ist es also möglich, diese Kräfte kollektiver Aufmerksamkeit
zu nutzen und eine mediale Persona auszubilden, die nicht allein
Servomechanismus des Dispositivs ist? Sondern als
existenzgewordener Ausdruck der Vitalität eines Lebens erfahrbar
wird? Wie gelingt mediale Repräsentation individueller Bedürfnisse?
Um diese Fragen zu beantworten möchte ich zwei Beispiele solcher
Erzählungen aus dem Feld der Wissenschaften näher betrachten.
Die erste Erzählung handelt von der Entdeckung der DNA-Doppelhelix
im Jahre 1953. Derzeit in Monographien und Presseartikeln zum
fünfzigsten Jahrestag verbreitet, stellt sie ihre Protagonisten als
glückliche Dilettanten dar. _James Watson und Francis Crick_, so
die Erzählung, seien zu jenem Zeitpunkt wenig studiert in Physik
und Chemie gewesen, etwas zerstreut und fahrlässig und wohl
insgesamt eher an Ale und Frauen interessiert als an der korrekten
Anwendung ihrer Fachkenntnisse. Als Autoritäten werden ihr
Institutsleiter Sir Lawrence Bragg zitiert, sowie Erwin Chargaff.
James Watson erscheint als ewig schlaksiges Wunderkind, das
"irgendwie an einen der Schusterjungen aus Nestroys
_Lumpazivagabundus_ erinnerte."; Francis Crick wird zum Unikum mit
"dröhnendem Lachen" und "hohe[r], erregte[r] Stimme, eine nie
ermüdende Pikkoloflöte." [1]
"Seit 35 Jahren", so Bragg 1951, "hat Francis nun schon
ununterbrochen geredet, und bisher ist so gut wie nichts von
entscheidendem Wert dabei herausgekommen." [2] Die Szenerie steht
bereit. Der rhetorische Effekt, daraufhin nun den Glücksfall der
Entdeckung zu erzählen, könnte kaum größer sein.
Es wäre voreilig, diese erzählerisch höchst dankbare Stilisierung
allein journalistischen Erzählern oder Watson und Crick selbst
zuzuschreiben. Die dramatische Zuspitzung zum Antagonismus
professionell-arrivierter Autoritäten einerseits und sträflich
unterschätzter Doktoranden andererseits ist vielmehr schon, wie
uns die Erfahrung lehrt, in der institutionell vorgegebenen
medialen Situation angelegt. Nicht erst Pressekonferenzen oder
Interviews, schon der Alltag in einem Forschungsinstitut, zudem
einem derart angesehenen und ambitionierten, erzeugt einen
medialen Druck, der eine profilierte Persona hervorbringt. Die
Umgebung befördert eine Akzentuierung differenzierender Merkmale.
Fehleranfälligkeit und Turbulenzen im Handeln von Watson und Crick
erscheinen als Ausweis ihrer menschlichen Qualitäten - ganz im
Gegensatz zum pflichtschuldigen Procedere ihrer Kollegen. Fachlich
mögen diese Mängel ihnen schaden, sozial bieten sie einen kaum zu
unterschätzenden Gewinn an Selbstdarstellungsmöglichkeiten. Ihre
Fehler und Ticks zu erzählen, scheint interessant.
*
Die mediale Persona der zweiten Erzählung trägt den Namen
_Slavoj Zizek_. Die Handlungsturbulenzen ihrer Auftritte finden
sich, zwar polemisch, doch recht anschaulich, wiedergegeben in
einem Artikel in der Zeitschrift Merkur:
"Man muß den manischen Redeschwall seiner Vorträge erleben, die er
unter expressiven Gesten hervorstößt, immer ein bißchen
beängstigend und charmant zugleich, sein eloquentes Englisch
gewürzt durch eine mitteleuropäisch harte Akzentuierung. Die Aura
des wilden Mannes vom Balkan ist wichtig, wenn nicht entscheidend
für die Aufnahme seines Werkes in Westeuropa und Amerika. Blass,
mit struppigem Haar, dunklen Augenringen und Bürgerrechtler-
Vollbart gibt er sehr eindrucksvoll den philosophischen
Zungenredner, der direkt aus dem Unbewußten Europas entsprungen zu
sein scheint." [3]
Der Autor wird hier sehr _persönlich_. Doch nicht persönlich genug.
Übergeht er doch just jene Details, die Zizeks Persona vom üblichen
Personal akademischer Symposien unterscheiden. Die nervösen Gesten,
obsessiven Handlungsroutinen erwähnt er nicht, auch nicht die
argumentativen und sozialen Selbstverstrickungen in Höflichkeit und Intersubjektivität,
die Zizek in eigener Sache stets thematisiert.
Der Autor umgeht diese Verhaltensweisen, da sie von der Tektonik
des medialen Raumes der Wissenschaften sanktioniert werden. Die
gravitätische Selbstgewissheit und -beherrschtheit, die das
Kollektiv honoriert, findet sich kaum bei Zizek; dagegen lässt
seine Persona ihre situativen Unsicherheiten und Fahrigkeiten,
Momentbedürfnisse und Empfindungen in Zwangshandlungen durchdringen. E
in Bereich des persönlichen, des medial schwer zu repräsentierenden
Verhaltens wird dominant, der gemeinhin als inkommensurabel gilt.
Als peinlich und disqualifizierend.
Mediale Persona und intimes Verhalten
Eine mediale Persona ist das erste, das wir von einem Menschen
wahrnehmen. Ob er ein Star des Wissenschaftsbetriebes ist oder nur
ein neuer Kollege im Zimmer neben uns. Es sind jedoch Äusserungen
intimen Verhaltens, die in den beiden soeben untersuchten
Erzählungen, eine Person medial distinguieren. Die institutionell
und medial souveräne Person wird in solchen Handlungen angebrochen
und perforiert. Sie ist nicht mehr konsistent erzählbar, es mischen
sich schwer zu deutende Bedürfnisse und Empfindungen, Obsessionen
und Neurosen mithinein, die nicht mehr sachlich, nur noch
_ad personam_ zu deuten sind.
Diese momenthafte Auflösung stabiler und abgeschlossener Personae
in einem von Selbstwidersprüchen und Unbeherrschtheiten
charakterisierten Handeln des Intimen ermöglichen erst die
Annäherung an diese Person. Handlungen, die zuerst nicht im
Hinblick auf ihre Darstellungswirkung entstehen, sondern aufgrund
intimer Bedürfnisse, die sich Darstellungen entziehen, bilden
Heterotopien im Strom des Üblichen. Genau das aber macht sie zum
erzählens- und nachfragenswerten Angriffspunkt für eine Annäherung.
Ereignen müssen sich diese intimen Irritationen allerdings vor dem Hintergrund
großer Souveränität im Umgang mit medialen Situationen. Nur in
diesen Fällen steigern sie die mediale Wirkung ihres Protagonisten.
Fehlt diese Souveränität, wirkt das gesamte Handlungskontinuum der
Person als fremdartig und undeutbar. Eine mediale Persona, die sich
wiederum auf erleichternde Weise als labil und nicht-funktionalisierbar
erweisen könnte, kann gar nicht erst ausgebildet werden.
Erzähler solcher Personae meinen, sich mit ihren Beschreibungen auf
Protagonisten des medialen Imaginariums zu beziehen. Doch treffen
sie nur Aussagen über Menschen, die keiner von ihnen kennt. Sie
beziehen sich auf gedruckte Sätze, geschnittene Aufzeichnungen,
inszenierte Photographien, geplante Auftritte. Artifizielle Quellen,
die als Indizien und Zeugnisse zu unbekannten Existenzen benutzt
werden und doch nur deren Repräsentationen im Kontinuum des Medialen hervorbringen.
Solche Erzählanlässe zu bieten und das eigene Handeln sich von
intimen Turbulenzen unaufgeregt stören zu lassen - die Glättung zur
medialen Persona sich also von nicht-medialen Haarrissen durchziehen
zu lassen -, dies ist die einzige Möglichkeit für Protagonisten des medialen
Kontinuums, zumindest das Ausgangsmaterial der Geschichten, die
über ihn oder sie erzählt werden, mitzubestimmen.
Die Deutung, die das mediale Kollektiv allerdings nachfolgend
vornimmt, die Skepsis, ob eine intime Irritation nicht doch nur
höchst clever kalkuliert war und tektonische Verschiebungen gegen
ein Individuum zur Folge haben kann - all dies bleibt dem Einfluss
einer medialen Persona entzogen.
Fussnoten
[1] Werner Bartens, Clowns im Labor, in: Die Zeit 58 (2003), Nr.9,
S.33
[2] ebd
[3] Jörg Lau, Auf der Suche nach dem guten Terror, in: Merkur 57
(2003), H.2, S.158-163. Online :
http://www.online-merkur.de/seiten/lau.htm
Dr. Holger Schulze
Universität der Künste Berlin
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